40_Jahre_IGS_in_Nds_Rede_Rolf_Wernstedt_110617-1

Prof. Rolf Wernstedt
40 Jahre Gesamtschule in Niedersachsen
Vortrag auf der gemeinsamen Veranstaltung der GEW Niedersachsen, der IGS Langenhagen und der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule am 17. Juni 2011 in der Integrierten Gesamtschule Langenhagen

I. Die Gesamtschul- Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates 1969

II. Pädagogische und politische Grundtatsachen

III. Was ist ideologische Schulpolitik? IV. 40 Jahre Gesamtschule in Niedersachsen

V. Aktuelle Situation

VI. Was bedeuten die Auszeichnungen für die IGS Hildesheim, Braunschweig und Göttingen?

VII. Ausblick

I. Die Gesamtschul- Empfehlung des Deutschen Bildungsrates 1969
Der Göttinger Historiker Hermann Heimpel hatte uns jungen Studenten der 60er Jahre den Rat mitgegeben, dass die Kenntnis von Sekundärliteratur und Quellen vor Neuentdeckungen schütze. Diese Warnung ist auch bei der Sichtung von Argumenten und Gegenargumenten, Geschichte und Verlauf der Gesamtschulentwicklung angebracht. Es gab zwischen 1965 und 1975 in der alten Bundesrepublik einen Deutschen Bildungsrat, in dem Bund, Länder, Kommunale Spitzenverbände, Gewerkschaften, Kirchen, Wissenschaft und kundige Persönlichkeiten in umfangreichen Studien und Empfehlungen die Reformbedürftigkeit des westdeutschen Bildungswesens umschrieben und sich auf konkrete Verbesserungen verständigten. Herausgekommen sind die wohl am Gründlichsten erarbeiteten Studien, die vor den PISA- Untersuchungen seit 2001 erschienen sind., z. B. dier Sammelband „Begabung und Lernen“ (1968) und der „Strukturplan für das Bildungswesen“ (1970). Am ihrer Sitzung am 30./31. Januar 1969 verabschiedete die Bildungskommission, in der u. a. Hartmut von Hentig, der spätere Hildesheimer katholische Bischof Josef Homeyer , Hans- Günter Rolff u. A. saßen, die Empfehlungen zur „Einrichtung von Schulversuchen“. Dies war die politische Gründungsurkunde der Gesamtschulen in der Bundesrepublik. Allerdings war es keine Grundentscheidung für die Umstellung des gesamten Schulwesens auf Gesamtschulen, wie es in den 60er Jahren in ganz West- und Nordeuropa geschehen ist. Die USA und Kanada kennen ja ohnehin nur Comprehensiv Schools. Vielmehr sollten die mit der Gesamtschule verbundenen Erwartungen und Befürchtungen in Versuchsschulen wissenschaftlich verifiziert oder falsifiziert werden.

Noch heute lässt sich das Einführungskapitel, in dem über die Gründe für und Einwände gegen die Gesamtschule gegenübergestellt werden, lesen, als wäre es ein Text aus dem Jahre 2011.
Unter dem damals unstrittigen Paradigma der Herstellung von Chancengleichheit erwartete man eine höhere Leistungsfähigkeit des Schulsystems insgesamt, eine größere Individualisierung des Lernens und eine stärkere Berücksichtigung wissenschaftlichen Denkens für alle in der Schule Lernenden und Lehrenden.
Unter wissenschaftlicher Orientierung verstand man die Erwartung, dass nicht volkstümliche oder literarische Bildung die Richtschnur des zu Lernenden sein könne, sondern dass sich alle Schüler durch hohe Spezialisierung Einblick in das Ganze und seine Zusammenhänge verschaffen können müssen und damit eine gebührende Distanz zu den Grenzen der Wissenschaft erwerben, eine Fähigkeit zur Kritik an Informationen erarbeiten und die Grundformen wissenschaftlichen Denkens einüben. „Darum lässt sich die Trennung in eine volkstümlich- elementare, in eine technisch- praktische und in eine wissenschaftlichtheoretische Bildung nicht mehr aufrechterhalten“.(S. 22). Die Einwände gegen diese Auffassung sind bekannt: Es würden zu viele überfordert und die Besseren kämen nicht zu ihrem Recht.
Als Individualisierung des Lernens wird die Möglichkeit verstanden, dass Schüler gemäß ihren Neigungen und Fähigkeiten Themen und Schwerpunkte selbst aussuchen können sollen. Erwartet wird dadurch eine Stärkung der Lernmotivation und Leistungsbereitschaft. Auch hier sind die Einwände erstaunlich gegenwartsnah: Das führe zu Beliebigkeit der Wahlen, Leistungsanforderungen würde ausgewichen und „ letztlich bedarf es für eine rationale Weltorientierung eines Mindestbestandes an Kenntnissen in wohl jedem der Fächer“ ( S. 24).
Die Bildungskommission vertieft die Erwartung der Individualisierung mit dem Hinweis, dass die Kinder in unterschiedlichen Fachbereichen stärker motiviert sind und deshalb auch sich dort jeweils qualifizieren sollen. Ein in Technik guter Hauptschüler ist vielleicht dem Gymnasiasten überlegen, während er es in der Sprache nicht ist. In einer gemeinsamen Schule würden alle von den Kenntnissen des Anderen profitieren. Der Einwand ist ein curricularer Klassiker: Das führe letztlich zu „zusammenhanglosem, bloß punktuellem Lernen“. (S. 27)
Auch die von der Forderung nach Chancengleichheit abgeleiteten Erwartungen sind gegenwärtig. Durch die frühe Trennung der Schüler in verschiedene Schulformen würde der „weitere Bildungsweg in einem Alter festgelegt, in dem sich ihre Eignung nicht eindeutig ermitteln lässt und in dem die soziale Herkunft der Schüler für den Schulerfolg noch weitgehend bestimmend ist“ ( S. 27). „Die aus einem anders verlaufenden Sozialisationsprozeß entstandenen Nachteile der Schüler aus den unteren Sozialschichten wird nicht genügend ausgeglichen und durch die frühe Auslese eher verstärkt“ (S. 28). Deshalb sei eine schrittweise und auf einzelne Fächer beschränkte Differenzierung ein guter Vorschlag. Auch hier ist der Einwand klassisch. Die mit früh erkennbarer guter Lernfähigkeit würden behindert und die Schwächeren würden ständig Misserfolge erleben.
Den größten Sprengstoff enthielt die formulierte Erwartung, dass mit einer Gesamtschule die gemeinsame soziale Erfahrung steige und damit ein Angebot bestehe, die durch das dreigliedrige Schulsystem verstärkte sozialen Ungleichheiten zu artikulieren und gemeinsam zu diskutieren . Konflikte zwischen den in der Schule erlebten und den in den Familien tradierten Lebensauffassungen könnten auf die Stärkung der Individualität wirken..

Der Einwand ist ziemlich rigoros: Die Zielsetzung der sozialen Integration in der Gesamtschule sei ein „sachfremder Erziehungsauftrag“ der Schule. (S. 30) Den Autoren in der Bildungskommission war durchaus bewusst, dass auch die bis dahin vorgebrachten Argumente für und wider die Gesamtschule zu keinem argumentativen Frieden führen würden. Sie formulierten :“Die bisherigen Argumente für und gegen die Gesamtschule enthalten Wertungen, die wissenschaftlich nicht bewiesen oder widerlegt werden können. Sie enthalten aber auch viele Vorurteile, die als Annahmen über empirische Zusammenhänge prinzipiell empirisch überprüft werden können“ (S. 32). Normenkonflikte könnten aber nach der wissenschaftlichen Untersuchung rational ausgetragen werden.

II.

II. Pädagogische und gesellschaftliche Grundtatsachen
Auch wenn in der Untersuchung umfangreiche Ausführungen über die Notwendigkeit von Leistungserbringung und die organisatorischen Bedingungen (u. a. Ganztagsschule) formuliert worden sind, die heute als selbstverständlich sind, erhebt sich die Frage, warum die Debatte seit 40 Jahren fast auf der Stelle tritt. Selbst die internationalen Vergleiche, die dem deutschen überwiegend drei-/viergliedrigen Schulsystem seit der ersten PISA- Studie weniger gute Leistungen bescheinigten als erwartet und vor allem eine nicht verantwortbare Spaltung von Schulerfolgen nach den sozialen Verhältnissen bescheinigten, haben nicht dazu geführt, dass über die Leistungen der sehr unterschiedlichen Gesamtschulen vorurteilsfrei diskutiert würde.
Wie ist das zu erklären?

Wahrscheinlich nur, wenn man in Rechnung stellt, dass noch nie eine Schulreform nur aus pädagogischen Gründen erfolgreich war und sein kann. Entweder waren es theologische Gründe ( Bibellesen in der Forderung der Reformation) oder militärische ( Preußen nach 1806, Sportunterricht auf Druck des Militärs) oder politische oder ökonomische oder demografische (Landschulreform) Gründe. Die Bildungsreformen der 60er und 70er Jahre haben nach meiner Einschätzung ökonomische und politische Gründe. Nach dem Abschluss der Wiederaufbauphase und dem abebbenden Flüchtlingsstrom hoch qualifizierter Leute aus der DDR nach dem Mauerbau stellte sich heraus, dass die wirtschaftlich boomende Bundesrepublik den wachsenden Bedarf an akademisch ausgebildeten Menschen nicht mehr befriedigen konnte, wenn nicht gewaltige Anstrengungen zur Hebung dieses Defizits unternommen würden. Pichts Alarmruf, dass ein „Bildungsnotstand“ drohe (1964) zielte direkt auf die Erhöhung gymnasialer Absolventen. Dies ist der Hintergrund für den enormen Ausbau der Gymnasien und die Erhöhung der Abiturientenzahlen in den 60er Jahren. Aus den USA und von Bürgerrechtlern (Ralf Dahrendorf) wurde der Gedanke der Gesamtschule in die Diskussion eingespeist. Die Popularität des Begriffs der Chancengleichheit hat zur Voraussetzung, dass viele wussten, dass diese in Westdeutschland trotz vieler Einzelbeispiele nicht gegeben war. Da die Aufmerksamkeit eines pädagogisch interessierten Publikums ohnehin auf die bildungspolitischen und pädagogischen Themen gerichtet ist, ist ihnen entgangen, dass die Schubkraft der Reformbewegung in dem Nachfragepotential an akademischem Fachpersonal in Wirtschaft, Staatsverwaltung, Wissenschaft, Forschung, Bildungssystem, Juristerei, Gesundheitswesen etc. steckte. Im Umkehrschluss hieß das, dass die Befriedigung dieses Mangels auch den Reformelan verlangsamte und schwächer werden ließ. So ist es zu erklären, dass zwar die demokratisch inspirierte und sich pädagogisch verstehende Bildungsreform Anfangserfolge erzielte, aber nicht die Stärke gewann wie im westlichen Ausland.

Nur in den damals sozialdemokratisch regierten Ländern, oft verbündet mit der damals noch progressiven FDP- Bildungspolitik ( man erinnere sich, dass Herr Hirche in Niedersachsen Anfang der 70er Jahre noch eine Offene Gesamtschule forderte, die sogar ohne die Vorgaben des Bildungsrates arbeiten sollte) wurden Gesamtschulen in nennenswerter Zahl gegründet (Hessen, Berlin, Bremen, schwächer in NRW, Niedersachsen, Hamburg). Dies erfolgte allerdings, ohne die wissenschaftlichen Ergebnisse abzuwarten. In BadenWürttemberg gab es nur zwei, in Bayern nur eine Gesamtschule als Versuchsschulen.

III. Was ist ideologische Schulpolitik?
Arbeitsweise, Zielsetzung, Begründung, Ergebnisse, Organisationsformen, Zensuren, Differenzierung, heterogene Zusammensetzung der SchülerInnenschaft, Ausbildung des Lehrpersonals, vergebene Abschlüsse waren ständig Gegenstand grundsätzlicher Art. Die politische Totschlagvokabel in dieser Auseinandersetzung war der Vorwurf der ideologischen Voreingenommenheit. Der Missbrauch dieses Vorwurf in der bildungspolitischen Tagesauseinandersetzung gehört zu den kaum noch korrigierbaren Irrtümern bis in die Gegenwart hinein. Der Vorwurf der Ideologie wird grundsätzlich nur denen gegenüber erhoben, die Neues formulieren und durchsetzen wollen. Historisch gewachsene Zustände und deren Verteidigung gelten danach als unideologisch und sachgerecht. Das gilt auch dann, wenn die alten Zustände selbst Ergebnis ideologischer, nämlich interessenbezogener und normativer Überzeugungen sind. Bis zum März dieses Jahres galt es noch als ideologisch, gegen die weitere Verwendung von Kernenergie zu sein. Seitdem ist es anders. Vor hundert Jahren galt es selbstverständlich als ideologisch, wenn man annahm, dass mehr als 4% eines Jahrgangs intellektuell in der Lage wäre, das Abitur zu bestehen. Es ist pure Ideologie der damaligen Eliten, die dies zur Herrschaftssicherung glaubten und für Wahrheit ausgaben. Es ist auch pure Ideologie zu behaupten, das sog. dreigliedrige Schulsystem sei bewährt„ begabungsgerecht“. Spätestens seit 1968 wissen wir ( vgl. „Begabung und Lernen“), dass es keine statische Begabung gibt, die man institutionell abbilden kann. Die neuere Hirnforschung bringt ständig neue Belebung dafür.
Das, was die Bildungskommission schon 1969 warnend bemerkte, dass es nämlich normative Konflikte gibt, die in Vorüberzeugungen mit politischen Implikationen liegen, hat sich bewahrheitet. Insofern können wir in der Frage der Auseinandersetzung um die Gesamtschule eine unehrliche Debattenkultur feststellen. Es wäre besser, nicht den peiorativen Begriff der Ideologie zu verwenden, sondern die hinter den bildungspolitischen Positionen stehenden normativen Annahmen und Interessen klar zu benennen und sich gleichsam mit offenem Visier zu streiten und nicht subkutan den Anderen zu diskreditieren.

Eine dieser Überzeugungen ist beispielsweise der Wille der Eliten, dass ihre gesellschaftliche Position auch an ihre Kinder weiterzugeben seien. Werner Remmers nannte es ironisch die Meinung der Leute, die der Überzeugung seien, dass aufs Gymnasium nur die Begabten und ihre eigenen Kinder gehen dürften. Dies geschieht in Deutschland traditioneller Weise über das Bildungswesen. Ludwig von Friedeburg wies vor gut 20 Jahren auf diesen traditionellen Zusammenhang hin. Als sich in den 80er Jahren zeigte, dass die Expansion des Bildungswesens die Bedürfnisse nach Arbeit und gesellschaftlicher Position erfüllten und die Ökonomie gesättigt schien, stagnierte auch die Abiturientenquote. Ein Übriges tat die sich ständig steigernde Qualität der beruflichen Bildung, die nach dem BBiG von 1969 die Bedürfnisse der Industriegesellschaft erfüllte.

Die Rufe nach Fortsetzung der Bildungsreform bekamen einen überflüssigen Klang, den man leicht mit „ideologisch“ diskriminieren konnte.
Eine biografische Zwischenbemerkung: Mir, als einem Menschen, der 1958 in der DDR das Abitur nach 12 Jahren, davon 8 Jahre richtige Einheitsschule, gemacht hatte, kamen die westdeutschen Diskussionen immer scheinheilig und von Doppelstandards getragen vor. Denn von 1952 bis 1990 waren sich in Westdeutschland alle einig, dass man ein solches Abitur nicht anerkennen könne, sondern das Abitur in fünf Fächern nachzumachen hatte. So war ich 1990 der einzige deutsche Kultusminister, der beide deutsche Abiture hatte und der staunend sah, wie alle Kultusminister ( einschließlich Herrn Meyer- Vorfelder in Baden- Württemberg und Herrn Zehetmeier in Bayern) zustimmten, dass alle DDR- Menschen, die das Abitur hatten, dieses auch anerkannt bekommen. Dies war ein klassischer Fall von doppelbödiger Entscheidungslage im westdeutschen Bildungsdiskurs. Plötzlich machte es gar keine Schwierigkeiten mehr, Millionen von Zeugnissen anzuerkennen, die man jahrzehntelang für minderwertig hielt. Pädagogische Argumente waren es jedenfalls nicht.
Es stellt sich die Frage, ob heute der pädagogische und demokratische Ansatz auf Erweiterung der Zahl der Gesamtschulen sich wieder mit den ökonomischen, demografischen und politischen Notwendigkeiten in Übereinstimmung bringen lässt.

IV. 40 Jahre Gesamtschule in Niedersachsen

Obwohl schon Richard Langeheine, der von 1965 bis 1970 für die CDU in Niedersachsen Kultusminister war, die Gründung von Gesamtschulen als Versuchsschulen ankündigte und die ersten 7 Integrierten und 2 Kooperativen Gesamtschulen auch genehmigte, konnte erst sein Nachfolger Peter von Oertzen (SPD) die Gründung von Gesamtschulen forcieren. Zu Beginn des Schuljahres 1971/72 begannen die ersten Gesamtschulen in Niedersachsen mit den fünften Klassen ihre Arbeit, als Versuchsschulen nach den Vorstellungen der Bildungskommission. Das ist der Anlass der heutigen Zusammenkunft.

Wer Niedersachsen und seine Bildungspolitik verstehen will, muss die politischen Verhältnisse und die räumlichen Strukturen langfristig betrachten. Politisch ist Niedersachsen das einzige Land, das in seinen Mehrheiten immer wieder zwischen SPD und CDU wechselte. Von den 65 Jahren seit Gründung des Landes haben 32 Jahre die SPD, 27 Jahre die CDU, 3 Jahre die DP, 3 Jahre die FDP das Kultusministerium geführt. Da dies immer im Wechsel geschah, konnte eine nachhaltige Befestigung in eine schulpolitische Richtung nie stattfinden. Eigentlich ist Niedersachsen das klassische Kompromissland. Wer dies nicht beachtet, verliert spätestens die übernächste Wahl.

So war es bisher immer. Als zweitgrößter Flächenstaat der alten und neuen Bundesrepublik spielten schon immer die regionalen Gegebenheiten und damit die Wünsche der Schulträger bei der Wahl von Schulformen und Standorten eine entscheidende Rolle. Niedersachsens Schulstruktur ist ohne die großflächige ländliche Vernetzung gar nicht zu verstehen. Sie bewirkte letztlich, dass auch in den kleinsten Gemeinden kleine Volksschulen und nach Einführung der Grundschulen diese erhalten blieben. Jede Gemeinde kämpfte um den Erhalt ihrer Schule, weil sie darin Vorteile für die Kinder und die Gemeinde sahen. Diese Frage war immer mit erheblicher emotionaler Energie aufgeladen und konnte Wahlen entscheiden. Deswegen war es nach dem Kriege und nach der Wiederaufbauphase wichtig, die zukünftige Struktur des Schulwesens möglichst einvernehmlich zu organisieren. Bei den sog. Barsinghäuser Gesprächen Ende der 50er Jahre konnte Kultusminister Langeheine ( damals noch DP) den Landvolkverband dafür gewinnen, nach der Klasse 4 eine moderate Landschulreform in Gestalt der Konzentration des ländlichen Schulwesens durchzusetzen. Auf dieser Linie haben seine Nachfolger weitergearbeitet. Die Notwendigkeit, weitere Standorte für gymnasiale Bildungsgänge zu öffnen, führte zu einer Neugründungswelle von Gymnasien in den 50/ 60er und 70er Jahren, wovon auch ländliche Räume nicht ausgenommen wurden, z. B. Bremervörde, Hankensbüttel, Burgdorf, Wolfsburg, Letter, Seevetal, Löningen usw. Von 1954 bis 1977 wurden in Niedersachsen etwa 90 Gymnasien gegründet. Das ist mehr als ein Drittel des gesamten Gymnasialbestandes in Niedersachsen. Bildungspolitisch heißt das, dass die Gymnasien quantitativ und qualitativ mächtiger und einflussreicher geworden waren als vor der Bildungsreform. Dies muss jede Politik in Niedersachsen berücksichtigen.
Die Gründung von Gesamtschulen mit Abiturmöglichkeit war gleichsam ein VersuchsParallel- Unternehmen zur Gründung der Gymnasien. Der eigentlich pädagogisch wirklich innovative Ansatz in Niedersachsen, nämlich der sog. differenzierte Mittelbau, in dem seit 1951 an 19 Volksschulen in den Klassen 5-8 gemeinsam unterrichtet wurde, wurde nicht weiter verfolgt Es sollte herausgefunden werden, wie lange Kinder gemeinsam unterrichtet werden können und welche Fach- Leistungs-Differenzierungen nötig sind. Der erfolgreiche Versuch wurde 1964 abgebrochen.
Bei der Genehmigung der ersten 7 Gesamtschulen gab es einen strategischen Fall, der seinerzeit großes Aufsehen erregte. Die von der CDU regierte Gemeinde Fürstenau im Landkreis Osnabrück stellte den Antrag auf Errichtung einer IGS unter gleichzeitiger Schließung aller anderen Schulen des Sek.- Bereichs I am Ort. Die Schule sollte bis zum Abitur „ersetzende“ Schule sein. Das wurde genehmigt.

Aber die hinter dieser Ausnahme stehende grundsätzliche Frage war, ob dies überall im Lande möglich sein sollte oder ob nicht die Gefahr bestünde, dass Eltern nicht mehr die Möglichkeit hätten, ihre Kinder auf eine Realschule oder ein Gymnasium zu schicken.
Dies ist der Kern aller bis heute bestehenden schulpolitischen Unterschiede.
Das Niedersächsische Schulgesetz von 1974 hat die Gesamtschulen als normale Schule ausgewiesen und deren Gründung nach Maßgabe des Bedürfnisses erlaubt. Bis zum Regierungswechsel 1976 gab es in Niedersachsen 34 Gesamtschulen, davon je die Hälfte IGS und KGS. Die neue Gesetzeslage von 1979/80 stufte die Gesamtschulen rechtlich ab, indem sie sie zu Angebotsschulen deklarierte. Die bestehenden konnten weiter arbeiten, neue kamen bis 1990 nicht hinzu.

Die IGS Stadthagen, die nach der langen Zeit als erte1990 ihre Tore öffnete, wurde nie offiziell genehmigt, weil sich ihre Genehmigung aus der Nichtbeantwortung der Frage nach der Genehmigung ergab. Die wissenschaftlichen Begleitungen der Schulen, die nach dem Bildungsrat vorgeschrieben waren, erfüllten ihre Arbeit, ohne dass sich daraus schlüssige empirische Beweise für die Überlegenheit des einen oder anderen Systems als Ganzes ergaben.
Die Beurteilungskriterien für die Schulsysteme mussten außerhalb der Pädagogik gesucht werden, in der Politik, der Demografie, der Finanzen, der Ökonomie.
Von 1990 habe ich darauf hingewirkt, dass die Gesamtschulen rechtlich ihren Angebotsstatus verloren und zu gleichberechtigten Schulen wurden ( 1993). Die Gründung von Gesamtschulen wurden allerdings von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Schulträger abhängig gemacht. Dies wirkte in vielen Landkreisen und Städten als Hindernis, weil damals die Vorstellung vorherrschte, neue Gesamtschulen erforderten auch neue Gebäude. In den Jahren bis 2003 kamen zu den bestehenden Gesamtschulen etwa genauso viele hinzu.
Die PISA- Studie von 2001 erbrachte das Ergebnis, dass das deutsche überwiegend dreigliedrige Schulwesen im internationalen Vergleich nicht die Leistungserwartungen erbrachte, die man erwartete. Vielmehr lagen Länder vorn, die wie Finnland, Schweden, oder Kanada Gesamtschulsysteme hatten. Pof. Jürgen Baumert, der deutsche Verantwortliche des PISA- Konsortiums, machte darauf aufmerksam, dass das Schulsystem in Deutschland offenbar dazu führt, dass die Leistungsspreizung in Deutschland besonders groß ist und die Risikogruppe, die ungenügend lesen kann, außerordentlichen Umfang hat. Verheerend aber sei, dass die Abhängigkeit des Bildungsstandes vom sozialen Status der Eltern in Deutschland signifikant sei.
Da dies eigentlich schon das Thema der Schulreform der 60er Jahren war, erstaunt es umso mehr, dass die deutsche Bildungspolitik darauf nicht sensibler und energischer reagiert hat. Über die Frage der Leistungsstandards konnte man sich schnell verständigen. Aber eine neue Schulstrukturdiskussion fürchteten vor allem die SPD- regierten Länder. Der CDU war dies nur recht. Und dabei hatten die demografischen Entwicklungen in Deutschland, vor allem die ständig wachsende Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, der Globalisierungsdruck auf Qualifikation und Arbeitsmarkt, die medialen neuen Dimensionen eine grundsätzliche Besinnung erfordert. Auch die Erfolgsbedingungen der PISA- Sieger wurden nicht wirklich rezipiert.
Als rational kaum noch nachvollziehbar, im klassischen Verständnis also ideologisch, kann man die Position der Regierung Wulff nach 2003 bezeichnen. Das Errichtungsverbot neuer Gesamtschulen in Niedersachsen bei gleichzeitiger schneller Abschaffung der Orientierungsstufe folgte dem Interessenkalkül des Philologenverbandes und des Teils der Bevölkerung, der das Gymnasium favorisiert.

Dies ist offenbar in Unkenntnis der ökonomischen Entwicklung, die einen erhöhten Ausbildungsstand erfordert, geschehen. Die Nichtbeachtung der Integrationsbedürfnisse der Migrantenkinder und der Wunsch nach Offenhalten der Bildungswege der Kinder ist offenbar völlig aus dem Blick geraten.

Denn die Doppelentscheidung, Abschaffung der OS und Gründungsverbot von IGS, führte dialektisch genau zum Gegenteil des Gewünschten. Der Druck nach früher Entscheidung für die Schullaufbahn verlagerte sich in die Grundschulen zurück. Dies führte in den ländlichen Räumen zur Verlängerung der Schulwege zum Gymnasium und den Realschulen und in den Städten zum völligen Ausbluten der Hauptschulen, weil die Eltern natürlich die Chancen ihrer Kinder wahren wollten. Letztlich wird dadurch auch der Wunsch in den ländlichen Räumen erhöht, bei zurückgehenden Schülerzahlen, wohnortnahe Standorte zu erhalten.
Die in Niedersachsen seit den 60er Jahren bekannte Form der engen Zusammenarbeit von Haupt- und Realschule kommt trotz Separationsbedürfnissen der Realschulen neu in den Blick.
Das alles hat zunächst gar nichts mit pädagogischen Erwägungen zu tun, sondern mit Demografie, Standortfragen, Elternwünschen und ökonomischer Leistungsfähigkeit der Schulträger.
Das prognostizierbare Ergebnis dieser Entscheidungen provozierte den Wunsch, die Möglichkeit zu eröffnen, auch kleinere Schulzentren aus Haupt und Realschulen pädagogisch so aufzuwerten, dass die Kinder alle Chancen behielten und der Weg bis zum Abitur offen gehalten wurde. Der Gedanke, dies in einem wie auch immer gearteten Gesamtschulkonzept zu versuchen, lag nicht fern. Es stellte sich die Frage, ob bei absehbar sinkenden Schülerzahlen das Erfordernis der Mindestzügigkeit aufrecht erhalten werden kann.
Es gab bereits in den 70er Jahren etwa zehn Schulen, in denen neben Haupt- und Realschulen sog. gymnasiale Angebote gemacht wurden. Werner Remmers hat diese 1976 sofort wieder aufgehoben, genauso wie die Vorschule und die Eingangsstufen.

V. Aktuelle Situation

Der Geamtschulstau war vorprogrammiert. Deshalb hat es in den letzten drei Jahren nach Aufhebung des Errichtungsverbots neuer Gesamtschulen eine Welle von Neugrünungen gegeben, so dass wir heute etwa 100 Gesamtschulen haben. Alle bisherigen bildungspolitischen Auswegmanöver im Kompromissland Niedersachsen, wozu eigentlich auch die Orientierungsstufen und in gewissem Sinne auch die KGS gehören, haben sich als nicht tragfähig erwiesen, die gesamte Struktur des Schulwesens im Lande zu sanieren. Relativ stabil stehen die Gymnasien da. Gegen sie ist seit der enormen quantitativen Ausweitung in den letzten 50 Jahren und dem offenbaren Elternwunsch keine konfrontative Politik möglich. Das Schulsystem aber so zu organisieren, dass alle anderen Schulen um das Gymnasium herum gruppiert werden, halte ich für verantwortungslos. Das Offenhalten der Schullaufbahnen als Möglichkeit für alle ist die eigentliche Aufgabe. Da dies unter den Bedingungen zurückgehender Schülerzahlen, der Inklusionsforderung und der möglichst flexiblen Ausbildung geschehen muss, stellt sich die Frage, welche zukünftige Struktur gelten soll. In vielen Ländern geht man auf ein zweigliedriges Schulsystem zu ( Berlin, Saarland, Ostländer). Was bietet Niedersachsen?

Es ist die Oberschule. Das Wort weckt bei mir Assoziationen an die DDR. Mein Abiturzeugnis ist von einer Oberschule ausgestellt worden. Die 10jähige Polytechnische Oberschule (POS) für alle Kinder der DDR bis zur 10. Klasse war der Beelzebub der konservativen Bildungspublizistik. So ändern sich die Worte!
Im Ernst: Löst die Oberschule die angedeuteten Probleme? Garantiert sie die Offenhaltung der Bildungswege? Sollen alle Standorte erhalten bleiben? Gibt es auch zu kleine Oberschulen? Welche Ressourcen stehen zur Verfügung? Gibt es eine Vergleichsrechnung zu möglichen Alternativen? Wieso sollen keine kleineren Zügigkeiten möglich sein? Warum ist die Standortgarantie für Gymnasien höher zu bewerten als die Bildungsgarantie für Kinder?

Die Fragen sind eigentlich schon die Antwort. Entscheidende Probleme der Schulentwicklung, der Qualitätserfordernisse der Schulen, der Offenhaltung der Schullaufbahn, der Finanzierung der Schulen werden strategisch nicht gelöst. Es ist ein niedersächsischer unabgesprochener Kompromissvorschlag, nicht richtig falsch und nicht richtig richtig, also eine halbe Sache. Nun mag man das als politisch weise halten, aber ist das eigentlich nötig?

VI. Was bedeuten die Auszeichnungen für die IGS Hildesheim und Göttingen?

Als vor einigen Jahren der von der Robert- Bosch- Stiftung verliehene hoch dotierte und renommierte deutsche Schulpreis an die niedersächsischen IGS in Braunschweig und in Hildesheim ging, war die Überraschung groß. Ministerpräsident Wulff erklärte vor Ort in Hildesheim, in solch eine Schule wäre er auch gern selbst gegangen.
Bundesweites Aufsehen erregte in der letzten Woche, dass derselbe Preis in diesem Jahr an die IS in Göttingen- Geismar verliehen worden war. Der Chef des von der KMK an der Humboldt- Universität in Berlin eingesetzten Instituts für Qualitätsentwicklung Prof. Dr. Anand Pant sagte, dass er eine solch gute Schule noch nie gesehen habe. Damit ist die Aufmerksamkeit wieder auf die pädagogischen Potentiale der Gesamtschule geführt:
Individuelle Leistungsanforderungen, so dass weder Unter- noch Überforderung feststellbar sind, Keine Fachleistungsdifferenzierung, Erziehung zu Teamfähigkeit, Konsequente Bildung von dauerhaften Klein- Teams mit weitreichenden Kompetenzen, vielfältige Lernerfahrungen in handwerklichen, künstlerischen und sportlichen Bereichen, Teamgruppentreffen in den Elternhäusern, Absolute Offenheit in der Bearbeitung von Erziehungs- und Lern- Problemen, Abbild der Göttinger Schülerschaft (65% mit gymnasialer, 25% mit Ralschul-, !0% mit Hauptschul- Empfehlung), Spitzenleistungen in allen Prüfungen, Intensive Kooperation mit gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen und Gruppen.

Besonders die hoch kommunikative Arbeit in sich selbst steuernden Klein- Lern- Teams, in denen bewusst heterogene Lerner sind, wird als ein besonders erfolgreiches Instrument angesehen. Die Schulleitung behauptet, dass die Prinzipien dieser Arbeit in allen Schulen möglich wären. Das Erstaunliche ist, dass die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler überdurchschnittlich hoch sind. Das Argument, dass es sich hier um eine hohe gymnasiale Population handelt, die zu überdurchschnittlichen Ergebnissen führen müsse, ist nur eine Scheinrelativierung. Denn wenn dies der Grund der Leistungsfähigkeit wäre, müssten die Leistungen der Göttinger Gymnasien noch höher sein, weil sie ja keine repräsentative Zahl von Haupt- und Realschulempfehlungen haben. Aber dieses Ergebnis gibt es nicht.

Richtig bleibt natürlich die Beobachtung, dass die Arbeit in weniger akademischem Umfeld wie beispielsweise in Hannover Linden oder Vahrenheide mit Göttingen nicht unmittelbar vergleichbar ist. Es bliebe zu untersuchen, welche Göttinger Erfahrungen tatsächlich übertragbar sind.
Wenn es stimmt, was gestern DIE ZEIT berichtet, dass das Erfolgs- Geheimnis der Schule die Haltung der SchülerInnen ist, dann muss man wissen, dass Haltung nur entsteht, wenn sie ermöglicht wird. Erzwungene Haltung führt zu Kadavergehorsam, ermöglichte zu Selbstbestimmung und Selbstdisziplin.
Kultusminister Althusmann wird mit dem offenbar relativierend gemeinten Kommentar zitiert, mit der IGS Göttingen- Geismar sei ein pädagogisches Konzept, aber keine Schulform ausgezeichnet worden. Eigentlich ist das selbstverständlich. Aber diese Beobachtung ist kein Grund, den Vorbildcharakter des pädagogischen Konzepts abzustreiten, sondern seine Übertragbarkeit zu evaluieren. Vor allem wäre es kein Grund, die Arbeits- Bedingungen der Schule selbst zu verschlechtern. Unterrichtsversorgung, Lehreraus- und – fortbildung sowie die Schulzeitfrage sind für die Schule kennzeichnend. Die Schulzeitfrage (8 oder 9 Jahre bis zum Abitur) ist unter dem offensichtlich oberflächlichen Vergleich mit anderen Ländern entschieden worden.
Natürlich kann man nach 8 Jahren das Abitur machen. Ich werde doch mein eigenes Abitur nicht schlecht machen! Die Nazis und die Kommunisten haben es in Deutschland vorexerziert, die neuen Länder beibehalten Dies war allerdings auf der Basis einer viel geringeren Population, die das Abitur erreichten, entschieden worden.
Wenn, wie heute, mehr als 40% eines Jahrgangs das Abitur anstreben, verringert sich die Reichweite und Wirkung traditioneller Schulsprache sowie Denk- und Verhaltensweisen. Das 13. Schuljahr, das ab 1952 wieder galt, repräsentierte zwar die Vorstellung klassischer gymnasialer Bildungsvorstellungen. Heute wäre sie ein Mittel, die kritische Potenz vorakademischer Bildung einzuüben und auch Jugendlichen zu ermöglichen, die dafür keine häusliche Voraussetzungen und Anregungen erhalten können. Das braucht Zeit.

Die achtjährige Phase, die in diesem Jahr erstmals absolviert wurde, ist das Produkt der bedingungs- und atemlosen Verwertbarkeitsideologie neoliberaler Observanz. Davon waren alle Parteien, auch meine eigene, seit den 90er Jahren befallen. Eigentlich ist diese mit der Finanzkrise seit 2008 obsolet geworden.
VII. Ausblick
Wir befinden uns in einer Phase, in der die demografischen und ökonomischen Zwänge sich mit den pädagogischen Möglichkeiten treffen können. Man muss dies erkennen und daraus die Schlüsse ziehen. Bei zurückgehenden Schülerzahlen und der damit einhergehenden erhöhten Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften jeder Art kann es sich unsere Gesellschaft nicht leisten, verborgene oder nicht geförderte Begabungen ungenutzt zu lassen. Dies scheint aber nur möglich, wenn man alle tauglichen pädagogischen Erfahrungen vorurteilsfrei prüft. Und dazu leisten die Gesamtschulen viel mehr als bisher propagandistisch wahrgenommen. Wahrscheinlich wird sich das deutsche Schulsystem in die Richtung der Zweigliedrigkeit entwickeln. Das Gymnasium und Gesamtschulen in vielfältiger Gestalt. Es wird vielleicht gar nicht mehr lange dauern, dass auch in Niedersachsen diese Entwicklung sichtbar wird, schön langsam und am Liebsten unauffällig. Ich hielte das für einen Fortschritt. Aber man muss dann wissen, dass die pädagogische Arbeit mit den schwierigeren, aber förderungsfähigen Kindern und Jugendlichen nur von einem Teil der Lehrerschaft getragen würde. Die Gymnasien und ihre Lehrerschaft wären davon ausgenommen.
Thomas Rauschenbach, der Leiter des Münchner Jugendinstituts, hat vor einem halben Jahr darauf hingewiesen, dass die Forderung nach Chancengleichheit nicht missverstanden werden darf. Sie bedeutete nie Ergebnisgleichheit. Aber wir haben auch in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass es nicht ausreicht, die gleichen Lernforderungen zu erheben und danach die Schülerinnen und Schüler zu messen. Man muss diese vielmehr überhaupt erst befähigen, ihre Chancen wahrzunehmen, damit es gerecht zugehen kann. Dazu gehören soziale, kulturelle, personale und praktische Kompetenzen, die alle erwerben müssen. In dieser komplexen Aufgabe haben die Gesamtschullehrinnen und – lehrer die größten Erfahrungen. Sie haben es viele Jahre unter großem persönlichen Aufwand und Engagement getan. Manche sind darüber müde geworden. Ihnen ständig mehr Beweise ihrer Tüchtigkeit abzuverlangen als allen anderen Schulen, ist nicht nur undankbar, sondern auch unfair.

Sie haben in den letzten 40 Jahren ihre professionelle und pädagogische Tauglichkeit erwiesen. Insofern haben sie der Gesellschaft mehr gegeben als viele zur Kenntnis nehmen wollen.

Aber eines ist noch ein Desiderat.
Es gibt bis heute keine statistisch relevante Auswertung über die Lebenswege und Erfolge von AbsolventInnen der Gesamtschulen. Peter Brammer, der erste Leiter der IGS- Göttingen, erzählte mir vor langer Zeit, dass die Schule seit dreißig Jahren versucht, den Lebensweg, d. h. u. a. auch den Studienerfolg ihrer Absolventen abfragt. Dabei sei ersichtlich geworden, dass die in den ersten Semestern erkennbaren Defizite an abfragbarem Wissen im Verhältnis zu den gymnasialen Kommilitonen für den gesamten Studienerfolg völlig unerheblich seien. Viel wichtiger für ein erfolgreiches Studium sei die in den Gesamtschulen eingeübte und trainierte Fähigkeit der selbständigen Informationsbeschaffung und kritischen Sichtung. Hier hätten die Gesamtschulabsolventen ohne Zweifel Vorteile.
In Abwandlung des eingangs zitierten Satzes von Hermann Heimpel könnte man sagen, dass die Kenntnis der Erfahrungen der Gesamtschulen vor pädagogischen Neuentdeckungen schützt. Und für diese Entdeckung kann man nach 40 Jahren den niedersächsischen Gesamtschulen und allen, die in und mit ihr arbeiten, nur gratulieren.